Bourgogne Transjurane – Eine Fahrt  zur Völkerverständigung

Spurensuche 2023. Suzanne Pawlas, Präsidentin der Genealogischen Gesellschaft Vaucluse und Christian Barry, Präsident der ACFA, haben im Landesmuseum Trier auf einer antiken Straßenkarte Carpentras gefunden.Spurensuche 2023. Suzanne Pawlas, Präsidentin der Genealogischen Gesellschaft Vaucluse und Christian Barry, Präsident der ACFA, haben im Landesmuseum Trier auf einer antiken Straßenkarte Carpentras gefunden.

Christian Barry, Urgestein der Städtepartnerschaft Seesen-Carpentras ist seit vielen Jahren mit seinen Franzosen auf der Spurensuche nach deutsch-französischen Gemeinsamkeiten, den „traces franco-allemandes“ in Geschichte und Gegenwart. Seit 2022 nehmen auch wir Seesener an diesen Fahrten teil. Wer hier nun voreilig meint: Geschichte, ach wie langweilig, hat nichts verstanden und liegt total falsch.
Es sind ja nicht nur die gemeinsamen Entdeckungen und Erkenntnisse, die wir nun mit unseren Partnern teilen können. Fast noch wichtiger sind all die kleinen, ungeplanten Augenblicke herzlichen Miteinanders im Tagesverlauf, die uns im Gedächtnis bleiben und unser Bild voneinander prägen. So entstehen Freundschaften auch über (Sprach-)Grenzen hinweg.

Unsere gemischte Gruppe Carpentras-Friedrichshafen-Seesen im Foyer des Zeppelin-Museum Friedrichshafen 2025.Unsere gemischte Gruppe Carpentras-Friedrichshafen-Seesen im Foyer des Zeppelin-Museum Friedrichshafen 2025.

Ein gutes Beispiel bietet die jüngste Reise vom 28. Mai bis zum 2. Juni 2025 nach Bourgogne Transjurane/Hochburgund, der heutigen Schweiz mit dem Bodensee.
Für die Franzosen bot sich als erstes Etappenziel ihre Schweizer Partnerstadt Vevey am Genfer See an. Da wir Seesener seit 1993 gemeinsam mit Vevey den Stand zum „Foire St. Siffrein“ in Carpentras im November betreiben, war es auch für uns der gegebene Treffpunkt. Die Franzosen reisten mit einem Bus an, wir mit der Bahn.

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Für den Abend hatte uns der Partnerschaftsverein Vevey-Carpentras zu einem ortstypischen Apéro, einem Empfang mit lokalen Köstlichkeiten eingeladen. Es wurde ein wunderschöner Abend, der bereits einen Vorgeschmack und die perfekte  Einstimmung auf den weiteren Reiseverlauf geboten hat. Der Sinn unserer Fahrten besteht ja nicht nur darin etwas zu lernen und neue Erkenntnisse mit nach Hause zu nehmen. Fast noch wichtiger ist es, so ganz nebenbei, sozusagen „en passant,“, alte Freunde, wie in Vevey, zu treffen und neue Freunde, wie etwas später in Friedrichshafen, zu finden.
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Früh am nächsten Morgen ging es durch die herrliche Schweizer Berglandschaft nach St. Gallen. Seit der Steinzeit ist die Gegend eine Drehscheibe bei den  Verbindungen von Ost nach West, wie auch von Nord nach Süd. Das Kloster St. Gallen spielt dabei seit den Tagen Karls des Großen  eine herausragende Rolle bei der Entwicklung Europas. Auf unserer Besichtigungstour konnten wir sogar 20 Sekunden lang einen Blick auf den berühmten St. Gallener Klosterplan werfen.
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Die Denkmalpflege gestattet nicht mehr Licht auf das Dokument. Eine neue Erkenntnis: der Plan ist in der Benediktinerabtei auf der Insel Reichenau entstanden.
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Dann, ganz anders, das romantische Städtchen Stein am Rhein auf dem Weg nach Schaffhausen. Es ist allemal einen Besuch wert. Anschließend ging es über die Grenze nach Deutschland hinein.

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Nach einem Abendessen und Übernachtung in Singen gab es bei der Weiterfahrt zur  Insel Reichenau einen Stopp im kleinen Ort Hemmenhofen. Hier verbrachte der Maler Otto Dix den Rest seines Lebens, nachdem er von den Nationalsozialisten im Dritten Reich als entarteter Künstler eingestuft worden war.

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In den goldenen Zwanziger Jahren verarbeitete er die Traumata des ersten Weltkrieges in radikalen und aggressiven Bildern. Darüber hinaus war er für seine schonungslosen Porträts bekannt. In seinem Treppenhaus hing lange sein Porträt von der „deutsche Josephine Baker“ genannten Tänzerin Anita Berber aus dem Jahr 1925 und im Musikzimmer das Triptychon „Großstadt“ von 1927, in dem er Krieg und soziales Elend anprangerte. Heute sind die Originale durch direkt auf die Wand aufgetragene S-W Reproduktionen ersetzt.
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In Hemmenhofen wandte er sich nach 1933 der Malerei in einem altmeisterlichen Stil zu. Die ausgestellte Kopie von „Randegg im Schnee mit Raben“ erinnert stark an Pieter Bruegels Winterbilder, etwa die„Jäger im Schnee“.

Im Keller verbirgt sich noch eine weitere Besonderheit des Anwesens, die man aber nur im Rahmen einer Führung zu sehen bekommt. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben Otto Dix und befreundete Maler die Kellerräume zu einem Partykeller ausgemalt. Das Haus hat sich inzwischen zu einer Art Wallfahrtsort entwickelt.
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Schließlich die Insel Reichenau mit ihrer bedeutenden 724 gegründeten Benediktiner Abtei. Hier soll der der Klosterplan von St. Gallen tatsächlich entstanden sein.
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Nachdem sich der Sachsenherzog Widukind, der große Gegner der Franken 785 in der Pfalz Atigny hat taufen lassen, verschwindet er aus der Geschichte. Alles spricht dafür, dass Karl der Große ihn auf seiner anschließenden Fahrt in das Königreich Italien in diesem Kloster auf der Reichenau abgegeben hat. Das sogenannte „Reichsitalien“ spielte für Karl den Großen, wie später auch für die deutschen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches eine zentrale Rolle.

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Weiter ging es nach Friedrichshafen, wo wir in der Abendsonne von der „Gesellschaft für Deutsch-Französische Freundschaft“ vor der überwältigenden Alpenkulisse am Bodensee Ufer durch die Vorsitzende Ulrike Müller von Kranik und ihrer Stellvertreterin Frieda Oliva aufs herzlichste begrüßt wurden.
Für die folgenden beiden Tage übernahmen die Friedrichshafener die Organisation der Reise.
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Da gab es zunächst bei herrlichem Wetter eine unvergesslich schöne Schifffahrt von Friedrichshafen in das sehenswerte, romantische Lindau. Man wusste gar nicht mehr wohin man zuerst schauen sollte und mitten drin die Weinstube „Zur Fischerin“ vom Bodensee und eine Ausstellung des Künstlers Friedensreich Hundertwasser.  Ein wundervolles, den ganzen Tag füllendes Programm.

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Am nächsten Tag, die Pfahlbauten in Unteruhldingen. Seit gut 100 Jahren ist die Kultur der sogenannten Pfahl Bauern bekannt. Sie gehörten mit zu den ersten Ackerbauern in Europa und lebten in den Uferzonen von Bergseen. Ihre Kultur existierte zwischen 3800 v. Chr. bis etwa 800 v. Chr.  Am Bodensee sind allein 250 Siedlungsplätze bekannt, aber viele Seen in der Schweiz und Norditalien kennen ebenfalls diese Siedlungsform. Erst vor wenigen Jahren ist eine weitere Fundstätte im Orchid See an der Grenze zwischen Albanien und Makedonien entdeckt worden. Wir sind eben seit Jahrtausenden Europäer mit grenzübergreifenden Kulturen.

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Danach ging es weiter zur barocken Wallfahrtskirche in Birnau. Hier holte uns ein Ukrainisch-Orthodoxer Bittgottesdienst in unser hier und heute zurück. Dem Krieg in der Ukraine und unserer politischen Gegenwart mit all ihren Problemen können wir nicht entfliehen.

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Weiter ging es in das Reichskloster Salem mit seiner berühmten Eliteschule und einem Feuerwehr-Museum. Die beiden Tage waren wie im Flug vergangen und nun hieß es so langsam Abschied nehmen. Er fand in einer Gaststätte mit dem passenden Namen „Wirtshaus Frohsinn“ statt.

Unsere Reisen sollen dazu dienen unsere Kulturen und gemeinsame Geschichte besser kennenzulernen und zu verstehen. Unsere Reise war ein facettenreicher, atemberaubender Ritt durch 6000 Jahre Europa und hat alle Erwartungen in jeder Beziehung voll und ganz erfüllt.

Was sie aber zu etwas ganz besonderem gemacht hat, waren die beteiligten Menschen. Ihre Art und Weise auf einander zu zugehen hat unsere gemeinsame Zeit zu einem Erlebnis werden lassen. Eine Erfahrung, die nicht nur glücklich, sondern auch Mut macht. Die Fahrt war Völkerverständigung pur. Eine Wohltat in einem Alltag, in dem die Spaltung der westlichen Gesellschaften auch uns eingeholt hat und der Rechtspopulismus unseren Alltag vergiftet.

Unsere Städtepartnerschaften sind aus der Not zweier schrecklicher Weltkriege entstanden. Nach einer unmenschlichen Zeit sollte das menschliche in den ehemaligen Feinden wieder entdeckt werden. Als ehemaliger Rüstungsstandort lag Friedrichshafen 1945 ebenso wie Hannover, Braunschweig oder Hildesheim in Schutt und Asche.

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Das Zeppelin Museum in Friedrichshafen stellt das zynische Gedicht eines Deutschen über die Situation der damaligen Zwangsarbeiter aus: „Wen Gott in seinem Zorn will strafen, den schickt er nach Friedrichshafen...Erfolgt die Strafe nicht genau, dann kommt er in den Luftschiffbau...“.
Das Zeppelin Museum wurde im ehemaligen Gebäude des Seebahnhofs von Friedrichshafen eingerichtet. Es ist Anfang der neunzehnhundert dreißiger Jahre im Bauhausstil erbaut worden und wäre schon allein für sich einen eigenen Artikel und eine Reise wert.

Wir durften Friedrichshafen und seine Bewohner von einer anderen Seite kennenlernen. Einmal mehr hat sich gezeigt, dass sich ein bisschen Gruppenwärme Gleichgesinnter gar nicht so schlecht anfühlt. Merci beaucoup!
Wir haben uns in Friedrichshafen von unseren alten und neuen Freunden verabschiedet und sind mit der Bundesbahn über Stuttgart-Frankfurt-Göttingen nach Hause gefahren, was reibungslos geklappt hat.
À propos Menschlichkeit, bei Fahrten mit Franzosen und ihrem legendären „savoir vivre“ kommen Genuss und Lebensfreude nie zu kurz, wofür Christian Barry bekanntermaßen ja auch ein ganz besonderes Händchen hat.
Kurzum, der Abschied in Friedrichshafen war, wie schon die Begrüßung in Vevey, überaus herzlich. Wir freuen uns schon auf die Fahrt im nächsten Jahr. Dann soll es in das ehemalige Königreich Italien gehen. Für Karl und Otto, diese beiden Großen unserer Geschichte, war es das Sprungbrett zur Kaiserwürde. Die Ziele könnten dann Pavia, Mailand und Verona heißen.
Interesse? Für Nachfragen und weitere Informationen stehe ich gern zur Verfügung.

Friedrich Orend