Vor 10 Jahren schrieb Friedrich Orend im Senioren-Magazin:
Doppeljubiläum: 20 Jahre Städtepartnerschaft Seesen Carpentras und 20 Jahre Vereinsjubiläum Club Carpentras
von Friedrich Orend
Teil 1
Carpentras hat etwa 21.000 Einwohner, ist Verwaltungssitz eines Arrondissements im Departement Vaucluse und seit 1993 Partnerstadt von Seesen. Es liegt 20 Kilometer nordöstlich von Avignon.
Ein flüchtiger Blick in einen x-beliebigen Reiseführer über das südliche Frankreich, oder heutzutage in das Internet, offenbart berets, dass unsere französische Partnerstadt Carpentras in einem gesegneten Landstrich liegt. Überreich die Eindrücke an Gerüchen und Aromen. Und dann die beeindruckende Landschaft, die seit mehr als 2000 Jahren auch Kulturlandschaft ist und uns einen Fülle antiker und mittelalterlicher Monumente hinterlassen hat: Die Arenen von Arles und Nimes, den Papstpalast ind Avignin, den Pont du Gard, das Theater und des Triumphbogen in Orange ..., jeder hat schon einmal davon gehört.
Und mittendrin, dort, wo sich die all sommerlichen, südwärts drängenden Touristenströme nach Osten zur Côte d'Azur und nach Westen Richtung Spanien teilen: Carpentras.
Die Region ist vielen eine Reise wert. Die Vermutung, dass sich zum Beispiel die weltbekannten Gallier Asterix und Obelix auf einer ihrer häufigen Reisen durch das heutige Frankreich riicht auch in Carpentras aufgehalten hätten, lässt sich zwar nicht mit letzter Sicherheit belegen, ist aber andererseits auch nicht gänzlich abzulehnen. Gute Gründe sprechen für einen längeren Aufenthalt der beiden Helden in den Mauern unserer französischen Freunde.
Da ist zunächst einmal die verkehrsgünstige Lage unseres ,,Carpentoracte Meminorum" nicht fern des uralten Handelsweges entlang des Rhone Tals, auf dem schon lange vor Caesars Krieg gegen Gallien (wir erinnern uns, Bellum Gallicum) phönizische und griechische Händler mit ihrem Warenangebot nach Norden gezogen sind. Nach der Gründung Marseilles 600 v. Chr. etablierten die Griechen hier in einem bereits bestehenden Oppidum des keltischen Stammes der Meminer einen Markt, der einen schwunghaften Handel in Gang brachte. Gehandelt wurden lebendes Vieh, Felle, Wachs und Honig. Ein Gläschen Lavendel Honig gehört noch heute zu den beliebtesten Reisemitbringseln aus Carpentras.
Damit war der Grundstein zu einer fast 3000-jährigen Geschichte als Handelsplatz gelegt, denn Carpentras und seine Märkte sind untrennbar miteinander verbunden. Der Name Carpentras wird einerseits aus dern Keltischen stammend als Siedlung hoch über deni Umland gelegen oder andererseits aus dem lateinischen Wort fiir die Transportmittel der damaligen Händler, den Ochsen Karren, gedeutet.
Tatsächlich liegt die Stadt gut geschützt auf einem Felssporn hoch über dem Flüsschen Auzon, das sich von Zeit zu Zeit aber auch in ein reißendes Wildwasser verwandeln kann. Die sichere Lage schützte das Oppidum zwar Jahrhundertelang vor Hochwasser und Räuberbanden, nicht aber vor den Legionen Roms. Im Jahr 46 v„ Chr. wurde aus Carpentoracte vorübergehend das römische Forum Neronis.
Die Römer hinterließen aus der Zeit des Kaisers Augustus in Carpentras einen Triumphbogen, der auf seiner Schauseite zwei Männergestalten in Ketten zeigt. Einer glatt rasiert und in Kleidern aus gewebten Stoffen gekleidet, der andere vollbärtig und in Felle gehüllt. Sie werden als besiegter Gallier beziehungsweise Germane gedeutet und verweisen auf die Unterwerfung der Alpenvölker durch Rom.
Einer in Carpentras erzählten Legende nach, hat Sankt Valentin um das Jahr 300 herum das Christentum nach Carpentras gebracht. Er sei jedoch mit all seinen Klerikern und vielen Einwohnern von dem alemannischen Heerführer Crocus, der mit seinen Leuten die Gegend brandschatzte, erschlagen worden. Von da an gaben sich in Carpentras Alemannen, Westgoten, Ostgoten, Burgunder und Sarazenen die Klinke in die Hand. Es waren unruhige Ziiten, und es starben viele Menschen in jenen Jahren. In Gallien durch plündernde Germanen und Germanien durch römische Straf-Expedirionen, die das römische Heer weit nach Norden führten. Am Harzhorn, vor den Toren unserer Stadt, werden gerade die Spuren solch eines Schlachtgeschehens aus dem Jahr 235 freigelegt. Der damalige Kaiser und Befehlshaber der Truppen, Maximinus Thrax, schrieb wahrscheinlich 236 in seinern Rechenschaftsbericht an den Senat in Rom: „Wir können nicht so viele Worte machen, versammelte Väter, wie wir Taten verrichtet haben. Auf einer Strecke von 400 bis 500 Meilen (etwa 600 bis 750 Kilometer) haben wir die Dörfer der Germanen niedergebrannt, die Getreidefelder verheert, die Herden weggeführt, Bewaffnete niedergemacht (getötet) und eine Schlacht im Sumpf geschlagen. Die Zahl der Gefangenen ist so hoch, dass das Reichsgebiet sie kaurn zu fassen vermag." Bei allen Schrecken der Schilderung werden in diesen Ereignissen auch europäische Dimensionen vor 1777 Jahren deutlich. Unsere Vorfahren waren mobiler als gedacht. In Carpentras ging der Handel zurück und das Marktgeschehen kam praktisch zum Erliegen.
Doch das Christentum hlieb und Carpentras war vom ausgehenden 5. Jahrhundeirt bis zur Französischen Revolution und dem Anscbluss der Stadt an Frankreich 1791 ein Bischofssitz.
Der vierte Bischof wurde um 600 der Heilige Siffrein. Zu den Reliquienschätzen der chemaligen Kathedrale, die ihm geweiht ist, gehören seine Gebeine und das „Heilige Zaumzeug", das auch im Stadtwappen von Carpentras zu sehen ist. Das „Heilige Zaumzeug" war ein Geburtstagsgeschenk an Kaiser Konstantin und aus einem Nagel vom Kreuz Christi geschmiedet. Es wurde in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, aufbewahrt und in hohen Ehren gehalten. Stand es doch im Rang auf einer Ebene mit dem Kleinod der Reichsinsignien des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationen", der „Heiligen Lanze" Ottos des Großen, die ebenfalls aus einem Nagel vom Kreuz Christi geferugt war. Das Heilige Zaumzeug verschwand 1204 bei der Plünderung Konstantinopels durch ein Kreuzfahrerheer, um im 15. Jahrhundert zum Zeitpunkt des Neubaus der Kathedrale im spätgotischen Stil wieder in Carpentras aufzutauchen.
Carpentras war neben Avignon, dem Sitz der Gegenpäpste, zu jener Zeit eine bedeutende Stadt. Als eine Folge der Albigenser Kriege wurde sie zusaminen mit der Grafschaft Venaissin 1274 dem Kirchenstaat angegliedert. Nun war der Papst der Landesherr. Ab 1320 wurde Carpentras dann Hauptstadt der Grafschaft. Zwischen 1310 und 1420, mit Klemens V beginnend, lebten bis 1430 sieben Päpste zeitweise in Carpentras. Und nicht nur Päpste. Der itaIienische Staatsmann, Humanist und Dichter Francesco Petrarca, dessen Name als Humanist und Begründer der italienischen Literatur in einem Atemzug mit Dante und Boccaccio genannt wird, verbrachte etliche seiner Lebensjahre in Carpentras und dem nahen Pernes-les-Fontaines. Geschichte ganz anderer Art schrieb er 1336, als er rnit seinem Bruder den Hausberg von Carpentras, den 1995 Meter hohen Mont Ventoux bestieg, nur um die Aussicht zu genießen und sich zu wundern, weil er die Pyrenäen nicht sehen konnte. Die Erdkrümmung war ihm noch unbekannt. Mit dieser Bergtour wurde er zum Vater der Bergsteiger und Begründer des Alpinismus. Aber noch bedeutender ist sein Bericht über diese Besteigung. Er bricht einer neuen Naturwahrnehmung Bahn: „Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst." Diese Worte gelten heute als kulturhistorischer
Schlüsselmoment auf der Schwelle vom Mittelalter zulr Neuzeit. Heutigen Sportfans ist der Mont Ventoux als eine Etappe bei der Tour de France bestens bekannt.
Die provenzalische Stadt Carpentras wird uns auch noch in der nächsten Ausgabe des Seniorenmagazins beschäftigen, dann wollen wir über ihre Beziehung zu Seesen berichten.
Teil2
In der letzten Ausgabe des Seniorenmagazms haben wir dainit begonnen, die Friihzeit unserer französischen Partnerstadt Carpentras vorzustellen. Jetzt, im zweiten Teil schließen wir unsere historischen Betrachtungen ab und wenden uns hin zum modernen Carpentras mit seinen Beziehungen zu Seesen.
Das Marktgeschehen in Carpentras war allerdings in aen vergangenen, unsicheren Jahrhunderten nahezu zum Erliegen gekommen. Neben der berühmten Messe von Beaucaire zählte Carpentras dann aber im Mittelalter wieder zu den wichtigen Handelsplätzen der Region. Und immerhin förderten die Anwesenheit der Päpste und ihres Verwaltungsapparates die Stadtentwicklung. Papst Innozenz VI befahl I 352 Carpentras durch eine starke Mauer mit 32 Türmen zu befestigen. Vier Stadttore garantierten einen reibungslosen Verkehrsfluss.
Eine päpstliche Bulle aus dem Jahr 1525 gab der Stadt schließlich das Recht, am 27. November, dem Jahrestag ihres Schutzheiligen St. Siffrein, einen Viehmarkt abzuhalten.
Seitdem wird dieser Markt in unserer Partnerstadt ununterbrochen abgehalten. Inzwischen hat er sich über den traditionellen Viehhandel hinaus zu einer bedeutenden regionalen Industrie- und Gewerbeschau entwickelt. Im November 2013 nun zum 488. Mal. Seit 20Jahren ist auch die Stadt Seesen Jahr für Jahr dort mit einem Stand vertreten. Seit Beginn der Städtepartinrschaft Seesen-Carpentras im Jahr 1993 sorgen die Stadt Seesen und der Partnerschaftsverein Club Carpentras für Harzer Flair im mediterranen Markttreiben. Nähert inan sich Carpentras von Seesen kornmend, so wird man schon von Weitem von der mächtigen 1360 errichteten und 27 Meter hohen Porte d'Orange begrüßt. Nur dieses alte Stadttor zeugt noch von der einst beeindruckenden Stadt-Silhouette. Die mächtigen mittelalterlichen Befestig·ungen mussten einem mehrspurigen Boulevard weichen, der Carpentras heute an ihrer statt umschließt. ,,Boulevard" ist übrigens ein deutsches Lehnwort in der französischen Sprache. Es leitet sich vom Bollwerk, der Befestigung, ab und bezeichnet eine Straße, die dem Mauerverlauf ringförmig folgt.
Dagegen fiihrt die Avenue den Anreisenden geradewegs in die Stadt hinein. Im Gegensatz zum eher ländlichen Eindruck von Seesen und Wantage gehört Carpentras zur mediterranen Stadtkultur, was sich augenscheinlich im StadtbiId widerspiegelt. Cafés, Restaurants und Boutiquen säumen Straßen und Plätze und bieten ein Bild sprudelnden Lebens. Ganz turbulent wird es freitags, wenn der Wochenmarkt für zusätzliches Gedränge sorgt. Verkauft werden die Produkte des Umlandes. Und davon hat Carpentras das ganze Jahr über eine Menge zu bieten. Im Frühling, ja wirklich, beginnt Anfang März die Erdbeerernte. „La fraise de Carpentras", die Erdbeere aus Carpentras, ist eine in Frankreich weit bekannte eigene Handelsmarke. Es folgen Spargel und Kirschen. Die Sommermonate bringen dann Melonen, Pfirsiche, Weintrauben und vieles mehr. Die Weine der Region sind von Jahr zu Jahr besser geworden und haben inzwischen rnit der ,,Appellation Ventoux Controlée" eine der begehrten Herkunftsbezeichnungen gewonnen.
Auch Oliven spielen eine große Rolle und Ende Noveinber steht Carpentras dann vollständig im Blickpunkt vieler Gourmets. Hier an der Place d'Aristide Briand werden dann bis in den Februar hinein die schwarzen Diamanten der Gegend, die Trüffel, gehandelt. Carpentras ist einer der wenigen Handelsplätze fiir dieses rare Gut. Trüffel spielen in Carpentras eine wichtige ökonomische und gesellschaftliche Rolle. Es war ein bedeutendes Ereignis und eine Ehre, als Seesens damaliger Bürgermeister Hubert Jahns anlässlich des 10-jährigen Bestehens der Städtepartnerschaft Seesen-Carpentras, feierlich in die,,Confrérie de la truffe Mont-Ventoux Comtat-Venaissin", die Trüffelbruderschaft, aufgenomrnen wurde. In der Küche der BeIle Epoque um 1900 spielten Trüffel eine wichtige Rolle. Unglaublich welche Mengen die alten Rezpte verlangten. Bei den damaligen Ernteerträgen von 1,5 Millionen Kilo, die im Jahr 1890 in Frankreich in den Export gingen, war das auch noch möglich und bezahlbar. Heute beläuft sich die Ertragsmenge auf insgesamt 50.000 Kilo und die
dafür erzielten Preise sind explodiert. So kommt es in Peter Mayles Buch ,,Trüffelträume" zu folgender Konversation: ,,.„„ ich bin sicher, Sie kennen sich mit Trüffeln aus." ,,Ein wenig, sie übersteigen derzeit meine finanziellen Möglich keiten." Poe nickte mitfühlend: „Sie sind in der letzten Saison bis an die 400 Francs gestiegen."
Gelegenheit, die eine oder andere Köstlichkeit direkt aus Carpentras auch hier in Seesen zu verkosten, bieten die Aktivitäten des Club Carpentras. Da ist zunächst das Sehusa Fest. Jahr für Jahr beleben unsere Freunde aus Carpentras das größte Festereignis in Seesen mit einem eigenen Stand, der inzwischen nicht mehr aus dem Festgeschehen wegzudenken ist.
Arn ersten Freitag im Dezember folgt die ,,Soiré au Musée"„ Mit frisch auf dem „Foire St. Siffrein" gekauftem Wein und Käse heißt es dann „den lieben Gott in Frankreich'' fiir ein paar Stunden nach Seesen in das Städtische Museum zu holen. Da lassen Asterix und Obelix mal wieder grüßen. Gemeint ist natürlich die letzte Seite eines jeden Abenteuers auf der mit viel Spaß und Jucheh gemein sam geschmaust und gefeiert wird. Und mal ehrlich, gibt es ein schöneres Gemeinschaftsgefühl als ein gelungenes gemeinsames Essen?
Den kulinarischen Höhepunkt der Bemühungen tranzösische Lebensart nach Seesen zu bringen, dürfte aber die Feier des Elysee Vertrages Ende Januar darstellen. Das jährlich zum Gedenken an den Abschluss des Deutsch-Französischen Freundschaft Vertrages von Club Carpentras veranstaltete Menue, besitzt dann schon fast französisches Gepräge. Unsere Freunde in den Partnerstädten und wir hier in Seesen können viel voneinander lernen. Und diese Möglichkeiten sollten wir auch nutzen. Im englischen heißen Städtepartnerschaften „twinnings", für die Franzosen sind wir ihre: „jumeaux", was auf das gleiche hinausläuft, närnlich ihre Zwillingsgeschwister. Ich finde diesen Begriff weit besser, weil prägnanter, viel intensiver und treffender als unser deutsches Partnerschaft. Eine Partnerschaft kann man aufkundigen, Fami lienbande nicht. Die Städtepartnerschaften sind aus der Not zweier schrecklicher Kriege und der späten Einsicht, dass wir uns unsere Nachbarn nicht aussuchen können, entstanden. Es hilft nichts, wir müssen mit ihnen leben. Dazu müssen wir sie kennen und verstehen lernen. Genau das ist unser Ziel, das wollen wir mit unserer Vereinsarbeit in den Partnerschaftsvereinen erreichen. Ich finde, das ist uns und unseren Zwillingsgeschwistern in den letzten
20 Jahren recht gut gelungen. Ich habe in dieser Zeit durch unsere Partnerschaften viele neue Freunde gewonnen und mein Leben ist durch sie reicher und bunter geworden.